P. Haber u.a.: Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleu

Cover
Titel
Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleuropa


Autor(en)
Haber, Peter; Erik Petry, Daniel Wildmann
Reihe
Jüdische Moderne 3
Erschienen
Köln/Weimar/Wien 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
171 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Zsolt Keller

Der dritte Band der von Alfred Bodenheimer und Jacques Picard herausgegebenen Reihe Jüdische Moderne trägt den Titel Jüdische Identität und Nation. Mit diesem Themenschwerpunkt steht das Werk im Trend der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, die sich in den letzten Jahren vermehrt Fragen der Identität, Nation und Sprache gestellt hat. Das Buch vereint drei Fallbeispiele aus Mitteleuropa, mit denen die Basler Historiker Peter Haber, Erik Petry und Daniel Wildmann das Thema exemplifizieren.

Als erste Innovation fällt der Aufbau der vorliegenden Studie auf. Die einzelnen Beiträge sind nicht nacheinander abgehandelt, sondern werden in drei resp. vier wohl portionierten Teilen präsentiert. Nach kurzen einleitenden Vorbemerkungen folgen die drei Fallbeispiele, theoretische Nachgedanken der Autoren greifen die Resultate wiederum auf und verorten die gewonnenen Ergebnisse. Kommentierte Bibliographien runden die Studie ab und vermitteln den Lesenden einen Eindruck über die ausgewertete Literatur. Durch diesen Aufbau stehen die Studien nicht isoliert nebeneinander, sondern gehen an gewissen Stellen ineinander über. Es entsteht so ein Netz von Aussagen und Thesen, Fragen und vielschichtigen Antworten. Doch worum geht es in den einzelnen Studien?

Peter Haber widmet sich in seinem Beitrag Sprache, Rasse, Nation. Der ungarische Turkologe Ármin Vámbéry einem Stück jüdisch-ungarischer Geschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert. Anhand der bewegten Biographie des ungarischen Turkologen Ármin Vámbéry (1832–1913) skizziert Haber eine subtile Assimilationsgeschichte des ungarischen Judentums, die sich zwischen den idealtypischen Polen der völligen Assimilation sowie der Bewahrung der eigenen Identität bewegte. Seine Untersuchung flankiert Haber mit dem Aufzeigen national- und identitätsstiftender Diskurse der (sich herausbildenden) ungarischen Nation. Vámbéry, der in einem jüdischen Elternhaus unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und im Erwachsenenalter zum Protestantismus konvertierte, begann im Alter wiederum über sein Jüdischsein zu reflektieren. Mit der Suche nach dem Ursprung der ungarischen Sprache stand seine reiche Forschungsarbeit, die sich mit ihren Thesen nie gänzlich durchsetzen konnte, ganz im Zeichen der Zeit. «Indem er den Ursprungsort der ungarischen Sprache im Orient verortete, imaginierte er eine Nähe des Ungarischen zur prototypischen Ursprache, zum Hebräischen» (S. 129). Unter anderem in diesen Gedanken – so Haber – verdeutliche sich die Komplexität von Assimilation und Identität.

Daniel Wildmann beschäftigt sich mit der bis dato wenig beachteten Körpergeschichte. In seinem Beitrag Der Köper im Körper. Jüdische Turner und jüdische Turnvereine im Deutschen Kaiserreich 1898–1914 nähert sich Wildmann mit organisations- und biographiegeschichtlichem sowie sozial- und mentalitätsgeschichtlichem Blick den verschiedenen Konstruktionen und Funktionen des «jüdischen Körpers». Über den Körper und die Arbeit am Körper versuchte die jüdische Turnbewegung, sich als eigenständiges jüdisches Kollektiv zu bestimmen und dieses Kollektiv inmitten komplexer ideologischer und politischer Konstellationen in einen gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Konstruiert wurde eine neue Art der Zugehörigkeit, die sich jenseits der jüdischen Religion – ohne diese jedoch in Abrede zu stellen – bewegte und primär nationaljüdischen Zielen folgte. Wildmanns Perspektive auf den «jüdischen Köper» ist nicht zuletzt auch deshalb faszinierend, da sich der «jüdische» Blick auf den eigenen Körper immer auch mit dem antisemitischen Blick konfrontiert sah. Ein Umstand, der die jüdische Identitätsbildung nicht unwesentlich beeinflusste. Bei dieser philosophiesierenden Annäherung an den eigenen Köper entstanden – so Wildmann – Entwürfe von (nationaler) Zugehörigkeit.

Die dritte Studie aus der Feder von Erik Petry trägt den Titel «Das Pack» Jüdische Identität im Vielkulturenstaat Schweiz am Beispiel Zürich. 1923 gründete eine Gruppe von jüdischen Jugendlichen einen Schachklub mit dem Namen «Schachklub Young Lasker» und legten damit den Grundstein für «Das Pack». In Anlehnung an eine Rede von Joseph Goebbels, der unter anderem vom «internationalen jüdischen Pack» sprach, bildete sich während dem Zweiten Weltkrieg der Name «Das Pack» heraus. Petry interessiert sich für die Lebenswelt(en) dieser Gruppe von Menschen und stellt in seinem Beitrag Fragen nach der Identität, der Identitätsfindung und Identitätswahrnehmung. In seiner Studie kommen die noch lebenden Mitglieder des «Pack», die Petry besucht und interviewt hat, zu Wort. In ihren Aussagen und Biographien spiegelt sich ein Stück weit die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Zürich im 20. Jahrhundert wieder. Greifbar werden Mechanismen der Einordnung in die jüdische Lebenswelt(en) sowie die bewusste und unbewusste Abgrenzung gegenüber und Annäherung an die nichtjüdische Umwelt. Petry, der in diesem Beitrag nicht nur seine Resultate präsentiert, sondern den Lesenden reflektierend die Entstehung seiner Studie vermittelt, gelangt am Ende seiner Suche zur Denkform der «hybriden Identität», die in der Identitätsbildung das Prozessuale betont. Mehrere Identitäten können sich überschneiden und überlappen, verdrängen sich jedoch nicht gänzlich. So ging das Schweizersein für die Mitglieder des «Pack» mit dem Judesein zusammen. Ausschliessende Momente gab es in der Selbstwahrnehmung der Mitglieder des «Pack» keine.

Die in diesem Band versammelten Studien regen zum Nachdenken an und zeigen neue Fragen und Wege der Forschung auf, die hoffentlich weiteren Eingang in die Jewish Studies finden werden. Schade ist lediglich, dass von den drei Autoren im Sammelband keine Synthese, die die drei Beiträge überblickt, geleistet wird. Doch dies könnte in einem Artikel noch geschehen.

Zitierweise:
Zsolt Keller: Rezension zu: Peter Haber, Erik Petry, Daniel Wildmann: Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleuropa (Jüdische Moderne, Band 3). Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 3, 2006, S. 369-370.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 3, 2006, S. 369-370.

Weitere Informationen